Von Theben nach Korinth
Entsetzt über sein eigenes Verbrechen und den Fluch flieht Laios in seine Heimatstadt Theben, wo er es schafft, als der rechtmäßige Prinz den Thron zu besteigen. Er heiratet
Iokaste und möchte Nachkommen zeugen. Aus Furcht vor dem Fluch wartet er zunächst und vergnügt sich stattdessen mit jungen Männern, da kann ja nichts passieren. Nachdem Iokaste nach längerer Zeit doch von ihm schwanger wurde, befragte er das Orakel im Apollon-Tempel in Delphi, die Pythia, die ihm bestätigt, dass es ein Sohn werden würde und dass dieser dazu bestimmt war, ihn, seinen Vater, zu töten. Damit nicht genug, werde sein Sohn anschließend seine eigene Mutter, Laios' Frau, heiraten. Nach der Geburt traut er sich aus Furcht vor dem Zorn der Götter allerdings nicht, das Kind selbst zu töten. Er gibt das Kleinkind einem Hirten mit dem Auftrag, ihn mit zertrümmerten Fußknöcheln in den Bergen auszusetzen und den wilden Tieren zum Fraß zu überlassen. Offenbar war es damals üblich, Tieren die Knöchel zu zerstören und die Sehnen zu durchtrennen, um sie am Fortlaufen zu hindern. Der Hirte nimmt das Baby mit ins
Kithairon-Gebirge, bringt es aber nicht über's Herz, es auszusetzen und damit zu töten. Einen zufällig vorbeikommenden Reisenden auf dem Weg nach Korinth bittet er, das Kind mitzunehmen, damit es weit entfernt von Laios in Sicherheit wäre. König Polybos von Korinth und seine Frau Merope sind kinderlos, nehmen den Jungen auf, heilen seine Wunden und nennen ihn Oidipus (Ödipus, Schwellfuß). Auch unser medizinisches Wort
Ödem hat hier seinen Ursprung.
Grausamkeit
Heute würde man wahrscheinlich sagen, das Kind schnell zu töten wäre viel weniger grausam, als es verwundet auszusetzen und darauf zu warten, bis es wilde Tiere fressen. Aber so war es wohl damals und ist es vielleicht für manche noch heute: Hauptsache, man muss das Leiden nicht mit ansehen. Den Auftrag zu geben und dann nicht zuschauen zu müssen, fällt eben leichter. So ist es auch mit unserer modernen Kriegstechnik: Einen Knopf zu drücken, ist leichter als dem Feind Auge in Auge gegenüberzustehen. An dieser Stelle fällt mir eine Parallele zu einem Märchen der Brüder Grimm auf. Verblüffend, wie manche Motive in verschiedenen Geschichten aus verschiedenen Epochen immer wieder auftauchen. Sie können sich's vielleicht denken: So wie Laios dem Hirten den Mord an Ödipus in Auftrag gab und dieser es nicht fertigbrachte, das Kind zu töten, passiert es auch bei Schneewittchen. Hier schickt die
böse Stiefmutter einen Jäger mit dem Kind in den Wald, um es zu töten. Er bringt es nicht fertig und gibt der Auftraggeberin Lunge und Leber eines jungen Wildschweins, die sie in der Annahme isst, sie würde Schneewittchens Eingeweide essen. Ob sie gehofft hat, dadurch so schön wie Schneewittchen zu werden? Viele haben versucht, die dahinterliegenden Abgründe zu erforschen, von Bruno Bettelheim über Donald Haase bis zu Eugen Drewermann. Manches klingt logisch, vieles zu weit hergeholt. Vielleicht liegt es nur am Grusel beim Lesen der Geschichten, deren Wirklichkeit weit entfernt ist. Auf jeden Fall fällt mir auf, dass es in beiden Fällen die Könige die Auftragsmörder sind, und Leute aus dem einfachen Volk, ein Hirte und ein Jäger sind es, die Mitleid zeigen. Natürlich sind das keine Tatsachenberichte, aber sie zeigen, was die einfachen Menschen denken, wenn sie solche
Märchen und Legenden erfinden.
Der Vatermord
Aber nun zurück zu Ödipus, der in Korinth aufwächst, weit entfernt von seinen leiblichen Eltern. Obwohl er hinkt, wird er von allen bewundert. Als er erfährt, dass er nur ein Findelkind ist, wendet er sich ebenfalls an das Orakel von Delphi, um zu erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Die Pythia sagt es ihm nicht, eröffnet ihm allerdings die Prophezeiung, dass er seinen Vater töten und der Mann seiner Mutter werden wird. Da er nicht weiß, wer mit "Vater" und "Mutter" gemeint ist, will er so weit wie möglich von Korinth weg, damit das nicht passieren kann. Bei seiner Irrfahrt kommt ihm auf einer engen Straße bei Delphi ein anderer Wagen entgegen, auf dem ein Mann mit einem Diener sitzt. Herrisch fordert dieser ihn auf, ihm Platz zu machen und ihn vorbeizulassen. Es kommt zu einem Kampf, bei dem Ödipus siegt, sein Kontrahent wird getötet, der Diener flieht nach Theben und berichtet dort von König Laios' Tod.
Ödipus und die Sphinx
In der Stadt herrscht schon lange eine große Angst: In der Nähe haust eine schlimme, gefährliche Gottheit, eine Sphinx mit Kopf und Brüsten einer Frau, dem Körper einer Löwin und zwei gefiederten Flügeln. Wer in ihre Nähe kommt, dem stellt sie immer die gleiche Frage. Wer sie nicht beantworten kann, wird von ihr verschlungen (bis jetzt alle). Wer Theben von der Sphinx befreit, soll hier König werden. Ödipus nimmt die Herausforderung an. Sie fragt ihn: »Welches Wesen geht am Morgen auf vier Füßen, zu Mittag auf zweien und abends auf dreien?« Nachdem Ödipus beim Nachdenken sein ganzes Leben vorüberziehen sah, antwortet er:»Es ist der Mensch. Als Kleinkind krabbelt er auf allen Vieren, als Erwachsener geht er auf zwei Beinen und im Alter muss er sich auf einen Stock stützen, ein drittes Bein.« Die Sphinx ist besiegt und stürzt sich über eine Klippe in die Tiefe.
Ödipus als König von Theben
Ödipus wird dadurch zum König von Theben und heiratet die Witwe des Königs, Iokaste, und zeugt mit ihr vier Kinder. Nach mehreren Jahren seiner Regentschaft wütet eine schreckliche Seuche in der Stadt. Das Volk verlangt von ihm, etwas gegen diese ansteckende Krankheit zu tun. Wer die Sphinx besiegt müsste doch auch das schaffen. Als einzigen Ausweg reist er wieder nach Delphi, zum Orakel. Die Pythia teilt ihm mit, dass die Pest Theben heimsucht, weil in ihren Mauern ein Mörder lebt, der Mörder von König Laios. Wird er nicht gefunden, wird die gesamte Bevölkerung vernichtet. Ödipus tut alles, um den Täter zu finden, aber niemand weiß etwas. Schließlich befragt er den blinden Propheten
Teiresias, den Sohn eines Schafhirten und der Nymphe Charikloder. Er erblindete, als er die Göttin Athene nackt im Bad sah. Seine Mutter flehte Athene an, die Erblindung rückgängig zu machen, was diese jedoch nicht konnte. Sie machte ihn stattdessen zu einem Auguren, der die Sprache der Vögel versteht, und der auch nach dem Tod seine Weisheit behält. Teiresias offenbart ihm nach langem Drängen, dass er selbst, Ödipus, der Mörder von Laios ist. Er spürt, dass es wahr ist und realisiert, dass er mit Laios seinen Vater getötet hat und dessen Witwe und seine Frau auch seine Mutter ist. Nach einer anderen Version verrät Teiresias nichts, obwohl er es zu wissen scheint. Hier erfährt Ödipus durch einen Boten aus Korinth, der ihm den Tod seines Stiefvaters mitteilt, und dem alten Hirten aus Theben, wer sein leiblicher Vater ist. Ödipus begreift, dass sich die Prophezeiung erfüllt hat. Er hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet.
Abb.: Gustave Moreau, gemeinfrei
Ödipus und die Sphinx sind auch ein beliebtes Motiv in der Malerei. Da kann man seine Phanatsie so richtig spielen lassen. Bei Gustave Moreau oben ist die Sphinx kleiner als Ödipus, wie sollte sie ihn verschlingen können? Natürlich, als göttliches Wesen spielt leibliche Größe freilich keine Rolle.
Auf dem realistischeren Bild unten schaut das schon ganz anders aus. Hier ist die Sphinx so groß, dass sie Ödipus mit ihren Tatzen hochheben kann wie King Kong seine Ann Darrow (1933 gespielt von Fay Wray).
Während die meisten Maler die Sphinx und Ödipus ausgesprochen schön darstellen, gab ihr Francois Xavier Fabre (François-Xavier-Pascal Fabre) vor 200 Jahren ein eher hexenartig oder männlich wirkendes Gesicht, allerdings auch mit zwei nackten weiblichen Brüsten, was die Widersprüchlichkeit der Gestalt noch weiter vertieft.
(oben, unten Ausschnitt)
Abb.: François-Xavier Fabre, 1806, gemeinfrei